Rolle rückwärts ...

18März2020

Unser nächstes Ziel: Berlin. Um ehrlich zu sein, unerwartet. Wir haben bewusst auf die Planung einer festen Reiseroute im Vorfeld verzichtet, um zu sehen, wo es uns hintreiben wird. Als Reiseziel haben wir Berlin nicht geplant. Die Stadt bedeutet für uns Heimat, aber wir haben den Verdacht, dass das, was wir vorfinden werden, nichts mit unserer Heimat zu tun hat. Ob die Entscheidung, nach Berlin zurückzukommen richtig ist, wissen wir nicht. Aber es fühlt sich für uns gut an.
 
Wir haben uns also doch kurzfristig umentschieden. Wir haben am Montag alle Informationen zum Coronavirus zusammengetragen, sämtliche Szenarien durchgespielt, in sozialen Medien geschaut, wie sich andere Weltreisende verhalten. Wir haben nach wie vor keine Angst vor einer Ansteckung, aber wir wollen nicht an einem Vorhaben festhalten, was sich unter Anbetracht der aktuellen Situation unvernünftig anfühlt. Die Entscheidung ist uns definitiv nicht leicht gefallen, denn wir haben viel Zeit und Kraft investiert, um uns den Traum einer langen Reise zu erfüllen. Wir werden auch weiter an unserem Traum festhalten, und glauben, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Berlin als Zwischenstopp. Die Sorge, keine Unterkünfte mehr zu finden, sich in einem fremden Land nicht mehr bewegen zu können, ein ungeklärter Auslandskrankenversicherungsstatus und der ungewisse Ausgang der Reisebeschränkungen haben für ein Umdenken gesprochen.
 
Natürlich sind wir etwas traurig. Viel trauriger macht uns allerdings, unter welchen Umständen viele Menschen leben müssen. Wir haben Europa nicht einmal wirklich verlassen, und dennoch haben wir täglich gespürt, wie viel besser es uns im Gegensatz zu vielen anderen Menschen geht. Allein, dass wir überhaupt die Möglichkeit haben, spontan einen Flug zu buchen macht uns glücklich. Für uns steht keine Existenz auf dem Spiel. Dafür sind wir sehr dankbar! Auch für die zahlreichen Angebote, uns Wohnungslosen in nächster Zeit zu unterstützen. Ich bin meiner Untermieterin mehr als dankbar. Sie ist aktuell bei ihrem Mann in Stuttgart und hat uns meine Wohnung überlassen. Keine Selbstverständlichkeit.
 
Was mich aktuell besonders ärgert, sind Kommentare wie "Ach, ein bisschen Zeit zu Hause ist doch toll!" Ich möchte gerne, dass wir den Blick für die Menschen nicht verlieren, die aufgrund des Coronavirus wirklich in einer Krise stecken. Es gibt Menschen, die haben kein Zuhause. Diese Menschen können es sich nicht einfach mehrere Wochen zu Hause gemütlich machen. Deren größte Sorge ist es nicht, ob sie sich in den nächsten Wochen den Hintern abwischen können, sondern ob sie die Krise überleben werden. Auch das Jammern über abgesagte Urlaubsreisen. Urlaub ist Luxus. Genau wie unsere Weltreise. Es gibt außerdem mehr als genug Menschen, die weiter zur Arbeit gehen, die sich für uns jeden Tag der Gefahr aussetzen an dem Virus zu erkranken. Bitte vergesst diese Menschen bei euren Äußerungen nicht und wählt eure Worte bewusst.
 
Während unserer Recherchen zu der "optimalen Packliste" sind wir immer wieder darauf gestoßen, dass Reisende immer eine Rolle Klopapier dabei haben sollten. Mit diesem Tipp im Hinterkopf haben wir in unserer ersten Unterkunft in Athen also eine Rolle mitgehen lassen. Es waren sicherlich fünf Pakete in der Unterkunft gehortet – da haben wir noch Witze gemacht. Nun soll sich zeigen, dass zurück in Berlin, die eine Rolle in unseren Händen mit Gold aufgewogen werden kann. Zumindest mit Blattgold – sie ist gefühlt 0,5-lagig.
 
Normalerweise mag ich die Atmosphäre an Flughäfen. Es gibt so viele unterschiedliche Gründe, warum es Menschen zum Flughafen treibt. Auch schöne Gründe, wie die Reise in die Flitterwochen, ein Auslandssemester oder eine lang ersehnte Urlaubsreise. Heute hatten wir das Gefühl, es gab für alle Reisenden nur einen Grund diesen Flughafen aufzusuchen – um nach Hause zu kommen. Viele Menschen, die mit Hoffnung zum Flughafen kamen, wurden enttäuscht. Zahlreiche, oder besser gesagt nahezu alle Flüge wurden gecancelt. Die Stimmung war angespannt. Ich muss zugeben, ich war auch bereits bei Ankunft am Flughafen (leicht) emotional. Während wir in der langen Schlange standen, um unsere Koffer aufzugeben, hörten wir plötzlich Schreie. Wir konnten sehen, wie Menschen auf der anderen Seite des Counters losrannten, die Mitarbeiter von Turkish Airlines auf den Tresen sprangen. Ich klammerte mich an Hugo, vor Panik, und mir liefen das erste Mal Tränen. Es gab eigentlich keinen Grund, denn wir waren nicht im unmittelbaren Geschehen, aber plötzlich liefen sie. Es wurde Minute um Minute voller am Flughafen. Auch hinter uns reihten sich viele Menschen in die Schlange. Die Turkish Airlines Mitarbeiter waren extrem bemüht, Ruhe zu bewahren. Trotzdem konnte man spüren, dass es auch für sie eine Ausnahmesituation ist. Sie blieben weiterhin freundlich, auch wenn die gecancelten Flüge teilweise zu emotionalen Reaktionen der Reisenden führte. Ich sagte mir "Bleib ruhig, Sophie, alles wird gut." Im selben Atemzug kam mir der Gedanke, dass nur der ruhig bleiben kann, der Sicherheiten hat. Finanziell. Sicherheit, die Unterkunft in einem fernen Land bezahlen zu können. Sicherheit zu wissen, dass man seinen Job nicht verlieren wird. Ich konnte die Emotionen der Menschen nachvollziehen. Während ich mich von der ersten Situation beruhigt habe und so in meinen Gedanken war, wurde es plötzlich unruhig in unserer Schlange. Mehrere Männer, direkt hinter uns, sind ohne erklärbaren Grund aufeinander losgegangen. Die Situation war schnell geklärt, aber da kam es schon über mich. 
Mir liefen die Tränen und ich zitterte am ganzen Körper. Ich wollte da weg. Aber es ging weder vor noch zurück. Es war schwer, mich zu beruhigen, aber nach einigen Minuten und nett lächelnden Menschen um mich, wurde es allmählich besser. Wir haben ein bisschen am Flughafen abgehangen. Sind pünktlich gestartet. Mit der Landung fiel ein Stein vom Herzen. Zu Hause. Heimat. Berlin.
 
Wir werden aus der Situation das Beste machen. Gemeinsam gegen Corona. Wir bleiben erst einmal zu Hause. Mit Klopapier.