Der "Dachdeckermeister" aus Manchester

29Feb2020

Nach einem gemütlichen Tag in Athen haben wir uns vorgenommen, der bereits besuchten Taverne einen zweiten Besuch abzustatten. Der Außenbereich neben dem Eingang ist gesäumt von Pflanzen, sodass man dort sicher auch an wärmeren Tagen einen netten Abend verbringen kann. Unser Weg führt uns aber nach unten, wo wir fast die einzigen Gäste sind.
 
Freundlich werden wir begrüßt, und uns werden die Gerichte des Tages offeriert. Wie schon beim ersten Mal, hört sich alles ganz fantastisch an und wir entscheiden uns für das Lamm aus dem Ofen, dem Coq au Vin, ein französisches Gericht, und dazu Fava, ein Püree aus gelben Erbsen. Bier und Wein runden das Essen ab. Wir werten den Tag aus und kommen mit dem Kellner ins Gespräch.
 
Als Wanderarbeiter hat er schon viele Orte gesehen. Schlussendlich hat es ihn nach Griechenland verschlagen, wo er seine zukünftige Frau, die Köchin und Eigentümerin des Ladens, kennenlernte. „Dann habe ich dich geheiratet“ erklärt er sich ihr zuwendend „und ich habe mich von dir scheiden lassen“ beendet sie seinen Satz. Vermutlich eine Beziehung mit Höhen und Tiefen. Wir schmunzelten. Ein weiterer Tiefschlag sollte am selben Abend folgen.
 
Dem geschiedenen Ehemann aus Manchester konnte man im Gesicht ablesen, dass Arbeit, Sonne, Alkohol und Zigaretten sein Leben bestimmen. Seine inmitten von tiefen Falten versteckten Augen blitzen auf, als er erfährt, dass wir aus Deutschland kommen und er nun von seinem Arbeitsaufenthalt in Magdeburg erzählen kann:
 
Es muss mehr zwanzig Jahre her sein, als er sich die Taschen mit „Deutschmark“ vollgemacht hat. Der Arbeitsauftrag lautete: das Dach des Finanzministeriums in Magdeburg decken. Dieser Aufgabe, sollte man als Dachdeckermeister gewachsen sein. Dass er sich den Titel "Dachdeckermeister" selbst gegeben hat, hat die Auftraggeber nicht gekümmert. Diese koordinierten ihre groß angelegte Geldwäsche aus den USA. Aus der Küche kamen durchdringende Blicke, die der Bauarbeiter aus Manchester, ohne hinzuschauen wahrnehmen konnte, abgewinkte, um weiter in der Geschichte fortzufahren. Er war sichtlich in seinem Element und wir hatten unseren Spaß.
 
Die Arbeit an dem Haus war kräftezehrend und ohne gelernten Vorarbeiter bauten sie, so gut sie konnten. Der Gebrauch der Kettensäge ist ihm, seiner Geste nach zu urteilen, noch deutlich in Erinnerung. Das Konstruktionsteam bestand aus unserem Mann aus Manchester, zwei Russen, ein paar Iren, sowie einige Schotten. Die Wochen vergingen und das Werk nahm Gestalt an. Doch im Laufe der Zeit sollte sich die Stimmung trüben. Die Entlohnung blieb aus und dies ließ vor allem die stämmigen Schotten zunehmend ungehalten werden. Die fehlende Entlohnung wurde mit klassischer Arbeitsniederlegung bestraft. Das sollte Wirkung zeigen, ein paar Tage später stand ein Mann mit Hut und Koffer zusammen mit seinen Bodyguards in der Tür. Neben denen sahen die Schotten wie Schoßhunde aus. Alle wurden in Bar ausgezahlt - die grünen Zwanziger sind deutlich in Erinnerung geblieben.
 
Man findet das Haus noch heute. Nach kurzer Google-Suche wurden wir fündig. Es steht ... noch. Dort heißt es: „Das Finanzministerium Sachsen-Anhalt hatte am Freitag den sofortigen Freizug eines Gebäudeteils mit mehr als 80 Büros angeordnet, nachdem Risse in den Wänden eines Gebäudeteils entdeckt worden waren.“ Link dazu.
 
Die Chefin gesellte sich nun dazu, schließlich wurden uns weitere Getränke angeboten. Noch bevor unsere Entscheidung fiel, stand ein weiteres Bier und eine kleine Flasche Tsipouro auf unserem Tisch. Die Unterhaltung verlagerte sich in die Küche, die Stimmung war gesellig und entspannt. Wir erzählen von uns und unseren Reiseplänen, sie von sich und ihrer Familie. Studiert in Montpellier, hat sie als Linguistikerin vor einiger Zeit zusammen mit ihrem Bruder das Restaurant ihrer Eltern übernommen. Das erklärte auch das Coq au Vin.
 
Das Telefon unseres Dachdeckermeisters klingelt und er entschuldigt sich, um nach draußen zu gehen. Wir reden weiter über Gott und die Welt und langsam neigt sich der Abend dem Ende. Dachten wir. Plötzlich werden wir von markerschütternden Schreien abgelenkt, zunächst dachten wir an einen Hundekampf. Unsere Neugier verlangte nach einem sichtbaren Beweis. Draußen zeigte sich schnell - es wurde kein Hund verletzt! Der zum Telefonieren nach draußen verschwundene Dachdeckermeister fand sich prügelnd vor einem parkenden Auto wieder. Die in diesem sitzende Frau schrie, der sich am Boden räkelnde Mann ächzte und ein Dritter wurde von weiteren Männern unter Protest vom Geschehen weggezerrt.
 
Unser Dachdeckermeister kam wie ein Boxer nach einem K.o. schnell, aber wackelig auf die Beine und wurde von seiner Ex-Frau lautstark zurück ins Restaurant zitiert. Blutüberströmt und sichtlich mitgenommen ließ er sich jedoch nicht nehmen noch einmal mit Schmackes gegen das Auto zu treten und richtete zielsicher seinen Mittelfinger gegen den deutlich jüngeren Kontrahenten. Wieder zurück in der Küche haben wir uns dann mit einer mitfühlenden Umarmung von der Besitzerin der kleinen Taverne verabschiedet, während sich der Dachdeckermeister aus Manchester verarztete.